GBS Magazin 2015 - page 17

GBS Herborn
Magazin 2016
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Wie in jedem Jahr waren die Adventswochen wieder
hektisch gewesen. Sie hatte Kostüme geändert, aus-
gebessert oder sogar komplett neu hergestellt. Dann
hatte sie alle nötigen Requisiten begutachtet und bei
Bedarf repariert, ausgetauscht oder ebenfalls kom-
plett neu gemacht. Auch das Bühnenbild hatte sie
überarbeitet und so hergerichtet, als sei es noch nie
vorher benutzt worden.
Jetzt saß sie in der kleinen Kammer neben der Sa-
kristei, aus der sie Stimmen vernahm. Es waren die
Kinder und Mütter, die das Krippenspiel in der Kirche
aufführen würden, für das sie alle Vorkehrungen ge-
troffen hatte. Sie hatte ihnen alles hingelegt und ge-
stellt, was für die Aufführung nötig war. Die Kostüme
in Reihe aufgehängt, so wie sie benötigt wurden. Alle
Requisiten dazu gestellt und beschri et, welches Teil
zu welchem Kostüm gehörte. Sie saß da und lausch-
te. Jetzt ging es in die Kirche, die bis auf den letzten
Platz gefüllt war. Am heiligen Abend war die ganze
Gemeinde da, auch die U-Boot-Christen, die immer
nur an Weihnachten au auchten.
Aufmerksam verfolgte sie die Aufführung des Krip-
penspiels, dann die gesamte Christmette und danach
die ganzen Danksagungen an die Beteiligten und
Darsteller. Danach lauschte sie dem Stapfen der
Schuhe und Stiefel, die die Kirche verließen. Sie hör-
te, wie in der Sakristei die Messdiener und der Pfar-
rer sich umkleideten und dann ebenfalls die Kirche
verließen.
Dann war alles still. Keiner war in ihr Kämmerlein
gekommen – nicht einmal der Pfarrer war bei ihr ge-
wesen. Niemand hatte ihren Namen erwähnt und so-
mit hatte auch keiner nach ihr geschickt, um sich bei
ihr zu bedanken. Sie hatte ja nicht groß
auf die Bühne gewollt oder mit Dankes-
arien gefeiert werden wollen. Aber
hätte nicht wenigstens der Pfarrer
bei ihr vorbei schauen können, um ihr zu sagen, dass
sie wieder alles schön zurecht gemacht habe?
Enttäuscht zog sie ihren Schal vom Stuhl und band
ihn sich um. Dann stand sie auf und wollte die Tür öff-
nen, als sie kurz erschrak. Sie hatte eine Bewegung
an der Tür gesehen und schaut jetzt genauer hin. Da
sah sie eine kleine Maus sitzen, die ihr ungeniert ins
Gesicht starrte. „Beinahe hätte ich dich übersehen,
so grau, wie du bist“, sagte sie zur Maus und lächelte
bei dem Gedanken, sich mit einer Maus zu unterhal-
ten. Als habe das Tier sie verstanden, kam es ein
paar Schrittchen näher und stand jetzt im kleinen
Lichtkegel, den die einzelne Deckenlampe ergab.
Hübsch war die kleine Maus, zwar tatsächlich grau,
aber hübsch. Sie bückte sich herab und die Maus
blieb unbeeindruckt sitzen. Kurz überlegte sie, dann
hielt sie der Maus die Hand hin. Und tatsächlich
sprang die Maus in die Hand, drehte sich und flitzte
zum Schal hinauf. Dort wuselte sie sich tief in den
Schal und rollte sich am Hals ein. Verdutzt stand sie
da, mit einer Maus am Hals im Schal eingebettet.
Nach kurzer Überlegung öffnete sie die Tür, schloss
alles gut hinter sich ab und ging nach Hause. Dort
angekommen, kam die Maus aus dem Schal gekro-
chen und setzte sich mit ihr an den mit Keksen und
Kakao gedeckten Tisch. Sie feierten Weihnachten ge-
meinsam, die kleine und die große graue Maus, die
sonst niemand sah. Und damit hatte sie die schöns-
ten Tage, die sie bisher in der Gemeinde erlebt hatte.
Im nächsten Jahr fand kein Krippenspiel mehr statt.
Man hatte vergessen, dass jemand sich um Kostü-
me, Requisiten und Bühnenbild kümmern muss, und
die nette Dame, die das bisher wohl immer gemacht
hatte, war in diesem Jahr nicht da
gewesen. Leider hatte keiner
eine Ahnung, wer sie gewesen
war.
von Conny Cremer
Die graue Maus
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